Der männliche Blick

Wir alle kennen ihn, diesen Blick: einen, der ungefragt in weibliche Dekolletees glotzt, der als Kamerafahrt genüsslich weibliche Rundungen abtastet, der voyeuristisch durchs Schlüsselloch sieht, der vorwurfsvoll auf kurze Röcke schaut … Gerade in der Kunstgeschichte und auch in der Sammlung des Brücke-Museums wimmelt es vor Darstellungen, in denen weibliche Körper, ob nackt oder bekleidet, zu Objekten eines männlichen Blicks werden. Doch was hat es mit diesem „männlichen Blick“, den heute die meisten Menschen als sexistisch empfinden, eigentlich genau auf sich?

Das Konzept des männlichen Blicks (englisch „Male Gaze“) stammt aus der Filmwissenschaft und bedeutet, dass männliche Personen als aktive Beobachter auftreten und weibliche Personen hierdurch zu passiven Objekten gemacht werden. Die amerikanische Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey prägte den Begriff 1975 mit ihrem Aufsatz „Visuelle Lust und narratives Kino“, in dem sie schrieb: „In einer Welt, die von sexueller Ungleichheit bestimmt ist, wird die Lust am Schauen in aktiv/männlich und passiv/weiblich geteilt. Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Fantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird. In der den Frauen zugeschriebenen Rolle als sexuelles Objekt werden sie gleichzeitig angesehen und zur Schau gestellt, ihre Erscheinung ist auf starke visuelle und erotische Ausstrahlung zugeschnitten. Man könnte sagen, sie konnotieren ‚Angesehen-werden-Wollen‘.“ Schon 1972 hatte der englische Kunstkritiker John Berger in seinem Buch Ways of Seeing unsere westlich-kapitalistischen Sehgewohnheiten hinterfragt. Besonders die Rolle der Frauen nahm er darin in den Fokus. Anhand von Aktdarstellungen in der westlichen Malerei machte er fest, dass Frauenkörper vornehmlich als Objekte inszeniert werden, die den Blick von Männern erfreuen sollen. Dieser Zustand ergab sich für ihn durch das gesellschaftliche, patriarchale Machtverhältnis, in dem Frauen quasi die Besitztümer von Männern waren. Was für Folgen das für die Selbstwahrnehmung von Männern und Frauen hat, beschrieb er so: „Männer handeln und Frauen erscheinen. Männer sehen Frauen an. Frauen beobachten, wie sie angesehen werden. Dies bestimmt nicht nur die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch die von Frauen zu sich selbst. Die Beobachterin in den Frauen selbst ist männlich: die beobachtete Frau. Daher macht sie sich selbst zum Objekt – und vor allem zu einem Objekt des Blicks: zu einem Schauspiel“.

Der männliche Blick kann also nicht nur von Personen männlichen Geschlechts ausgeübt werden, sondern er betrifft in einer nach wie vor männlich geprägten, sexistischen Gesellschaft uns alle. Durch die ständige Präsenz entsprechender Bilder in den Medien wurde unsere Wahrnehmung entsprechend geformt. Immer wieder gab es auch Kritik am Konzept des Male Gaze: Weil er von nur zwei – zudem heterosexuellen – Geschlechtern ausgeht, fehle ihm die Perspektive von LGBTIQA+-Personen. Auch Faktoren wie Rassismus, die die Objektifizierung oftmals verstärken, kommen nicht vor. Seit einer Weile wird die Theorie eines „weiblichen Blicks“ verstärkt diskutiert, die u.a. durch die französische Filmwissenschaftlerin Iris Brey vertreten wird. Sie setzt sich dafür ein, ihn nicht einfach als Umkehrung seiner männlichen Variante zu sehen, bei der nun der männliche Körper zum begehrenswerten Objekt gemacht wird. Stattdessen sollen im weiblichen Blick alle Körper zu Subjekten des Begehrens werden. Die Asymmetrie in den Machtverhältnissen, die im männlichen Blick das Verlangen kennzeichnet, wird durch eine Ästhetik der Gleichheit und des Gemeinsamen ersetzt.

Sonja Eismann, Mitherausgeberin des Missy Magazine, schreibt und forscht zu Feminismus und (Pop-)Kultur

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