(Maria González Leal)
Kommentar: Vermeintlicher Orient und die Zirkusszene
Wenn wir ein Bild betrachten, dann sehen wir nicht bloß das Bild. Wir sehen dieses Bild beeinflusst durch unsere Sozialisierung. Spannend ist, dass es keine kollektive übereinstimmende Aussage über ein Bild geben wird. Die Aussagemöglichkeiten des Bildes sind so mehrdimensional, wie ihre Betrachter:innen. Die mehrdimensionalen Deutungsmöglichkeiten können zusätzlich noch erweitertet werden, wenn wir über die Maler:innen und deren Intentionen nachdenken. Und auch unser Nachdenken über diese Inhalte ist beeinflusst durch unsere Sozialisierung. Die Frage nach der wahren Bedeutung ist damit obsolet.
Wenn wir uns die Darstellung des Orients ansehen, dann sehen wir keine „objektive“ Darstellung des Orients. Wir sehen die imaginierte und oder auch erlebte Version des Orients der Maler:innen. Es ist daher ein wichtiger Zusatz zu wissen: Wer sind die Maler:innen, wo kommen sie her, wann haben sie gelebt, welcher Klasse gehören sie an usw.? Wir können auch die politischen und soziokulturellen Einstellungen der Maler:innen aus dem Bild ableiten: Welche Einstellungen haben sie zu Geschlechterbeziehungen oder über Gender, Race, Klasse, zu Körpern, usw.?
Im „besten Sinne“ ist das Bild ein Zerrbild des Orients und dessen Menschen. Eine andere Deutungsmöglichkeit ist, dass der eurozentrisch-koloniale Voyeurismus auf den Orient schmerzhaft deutlich und klar lesbar ist. Je nachdem von welcher Positionierung aus wir das Bild betrachten. Wir können davon ausgehen, dass die Maler:innen weiß sind und die Funktion der Beobachter:innen dieser „Szene“ einnehmen. Auf dem Bild hingegen sind keine weißen Menschen zu sehen. Wir sehen eine Gruppe von Männern of Color und eine Frau karikiert dargestellt. Die Männer mit langen schwarzen Bärten stehen in roten Kutten in einem Kreis und wirken bedrohlich. Die Frau hat unnatürlich weiße Haut. Es erinnert an weißes Theaterpuder oder Make-up auf der Haut einer Schwarzen Frau. Die Schwarze Frau scheint Tänzer:in zu sein. Sie trägt einen blauen Minirock, der an Bananen erinnert und damit unweigerlich an das Bild der tanzenden Josephine Baker erinnert. Ein Mann wendet sich und seinen Körper von der Szenerie ab. Er schaut der Szenerie missbilligend zu. Es könnte sein, dass er die Tänzer:in missbilligt oder dass er missbilligt, dass die Tänzer:in Schwarz ist.
Erinnern wir uns noch einmal an den Titel des Bildes: Zirkusszene. Wir gehen in den Zirkus, um von Clowns unterhalten zu werden und exo:***/seltene Tiere zu bestaunen. Doch wer soll in diesem Bild unterhalten und wer soll bestaunt werden?! Die Maler:innen zeigen uns einen Zirkus im Orient, in dem Männer Frauen beim Tanzen zu sehen und nicht Tieren oder Clowns. Der moralische Zeigefinger einer angeblich kulturell überlegenden Gesellschaft ist eines der Themen dieses Bildes. Die weiße koloniale Kultur erschafft den Orient. Sie erschafft eine artifizielle Kultur und Menschen, die nur in der Imagination leben: mystisch, frivol, fern, unbekannt, aggressiv … anders.
Aber zurück zur Tänzer:in. Die Darstellung der Tänzer:in ist nicht minder verstörend. Die Haut ist ein unnatürliches weiß. Eine Art Black-Facing einer Schwarzen Frau damit sie von nicht Schwarzen Menschen, als Schwarz identifiziert werden kann. Die Gesichtszüge erinnern stark an die Vorstellung weißer Menschen von Schwarzen Frauen. Und nicht weniger erinnert die Darstellung des Körpers an den von Sarah Baartman. Interessanterweise erfüllen beide Schwarze Frauen die Funktion der Unterhaltung für andere (oftmals weiße) Menschen. Und meistens können sie für Geld erworben werden. Die Tänzer:in nimmt eine flehende Haltung ein und wird durch die Art der Malerei ihrer Würde beraubt. Die Hierarchisierung von Menschen aufgrund von Farbe – Hautfarbe – läuft, wie ein Film im Hintergrund, immer mit. Diese Perspektive auf die Wertigkeit von Menschen hat sich bis in die Gegenwart gehalten: weiße Männer, dann Männer of Color und dann Schwarze Frauen. Schon damals eine verbildlichte Version der Bedeutung von Intersektionalität. Der Schwarze Körper einer Frau existiert nur, um die Bedürfnisse anderer Menschen zu stillen. Die Schwarze Frau wird zu einem Etwas gemacht. Etwas, dessen Wert durch einen Preis bestimmt werden kann und das inhärent keine Würde besitzt. Ihre Positionierung im Bild gibt Auskunft über ihre gesellschaftliche Stellung – sie ist der Bodensatz.
Bilder können gewaltvoll sein. Sie entstehen nicht unabhängig von ihrer Zeit und politischen oder geographischen Kontexten. Die Zirkusszene zeigt, wie Kunst eine der größten Propagandamaschinerien in Deutschland/weißen Räumen bzw. in Gesellschaften war und ist. Ein Werkzeug, um Gewalt zu legitimieren, weil es ganz spezifische „Unterschiede“ zwischen Menschen gäbe. Dieses Bild zeigt uns den Zeitgeist einer Gesellschaft, der weitverbreitet und noch lange nicht vorbei ist.