Zur Wiederentdeckung von Herkunftsgeschichten

Dr. Nadine Bauer
Provenienzforscherin am Brücke-Museum

Wem gehörte die Kunst, bevor sie in unsere Sammlung kam? Diese Frage steht im Vordergrund der Provenienzforschung am Brücke-Museum. Uns geht es darum, möglichst lückenlos die Biografie von Erwerbungen und Schenkungen aus dem Bestand nachzuvollziehen und ihre Herkunft zu dokumentieren. Im November 2018 haben wir daher mit einer systematischen Prüfung begonnen, die durch die Förderung des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste ermöglicht wird. Zunächst galt es in einem einjährigen Forschungsprojekt rund 60 Gemälde, Glasbilder und Skulpturen des Brücke-Museums genauer zu betrachten.

Häufig ist der Fokus in der NS-Provenienzforschung darauf gerichtet, alle Objekte zu untersuchen, die vor 1945 entstanden sind und ab 1933 in die Sammlung kamen, um eine konkrete Prüfung auf Raubkunst zu ermöglichen. Im Brücke-Museum stammt der erste Eintrag des Inventarbuchs, in dem alle Neuzugänge verzeichnet werden, allerdings erst aus dem Jahr 1964, als das Museum initiiert wurde. Seit den 1960er-Jahren bereichern Schenkungen, vor allem von Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel, aber auch Erwerbungen im lokalen Berliner, dem deutschen und internationalen Kunsthandel die Sammlung. Eine Reihe von Werken wurde direkt von Privatsammler*innen aus dem In- und Ausland bezogen. Bei diesen Werken sind die Eigentumsverhältnisse während der NS-Zeit nicht immer bekannt. Die Erforschung von möglichen Entzugskontexten und Verfolgungsschicksalen gestaltet sich dabei teilweise sehr komplex. Wichtig zu bedenken ist auch, dass etwa Schmidt-Rottluff und Heckel nicht selten eigene Werke Jahrzehnte nach ihrer Entstehung zurückerwarben.

Gleich zu Beginn des Projektes erfolgte eine eingehende Recherchearbeit zu der Glasmalerei von Max Pechstein Drei stehende weibliche Akte, die seit der Eröffnung des Museums im Jahr 1967 im Eingangsbereich des Hauses installiert ist. Nach einem Entwurf des Künstlers wurde das Fenster 1910 ausgeführt. Laut der zum Werk gehörenden Inventarkarte – einer wichtigen Quelle aus unserem Archiv und erster Ansatzpunkt aller Forschung – wurde die Arbeit dem Museum 1967 von der Berliner Firma Möbel-Hübner geschenkt. Anders als dies vermuten lässt, besaß das Möbelhaus das Fenster allerdings nie selbst, sondern stellte dem Museum lediglich einen Betrag für die Sammlungserweiterung zur Verfügung. Die Entscheidung, welches Werk von dem Geld erworben werden sollte, traf Leopold Reidemeister, der erste Leiter des Brücke-Museums. Die weiteren Aufzeichnungen in den Erwerbsunterlagen weisen darauf hin, dass ihm die Kunsthändlerin Elfriede Wirnitzer aus Baden-Baden das Fenster im Auftrag ihrer New Yorker Klientin Maria Tannenbaum wenige Monate zuvor angeboten hatte. Ergänzt wird diese Information durch einen 1967 verfassten Aufsatz zu Glasmalereien der Brücke-Künstler. Aus diesem geht hervor, dass die Drei stehenden weiblichen Akte seit 1921 Herbert Tannenbaum, dem 1958 verstorbenen Ehemann Maria Tannenbaums gehörten. Der Autor des Textes, Günter Krüger, wusste durch seinen Schriftwechsel mit Maria Tannenbaum weiterhin zu berichten, dass das Werk den Zweiten Weltkrieg im Lager eines Mannheimer Ofengeschäftes überstanden hatte.1

Der jüdische Kunsthändler Herbert Tannenbaum war 1937 gezwungen von Mannheim nach Amsterdam zu emigrieren, wo die Familie die Zeit des Nationalsozialismus zum Teil verborgen überlebte. Nach Kriegsende kehrten die Tannenbaums nicht nach Deutschland zurück, sondern wanderten 1947 nach New York aus und waren auch dort kunsthändlerisch tätig.2 In den 1950er-Jahren erhielten sie ihr Pechstein-Fenster zurück und brachten es zunächst in der Kunsthalle Mannheim unter. Nach dem Tod ihres Mannes entschied sich Maria Tannenbaum dafür, die Glasmalerei zu verkaufen. So gelangte sie schließlich an ihren zentralen Platz im Brücke-Museum. Obwohl es sich somit keinesfalls um Raubkunst handelt, ist dieser sensible Hintergrund für die Erinnerungskultur sehr wichtig. Die Recherche zu Pechsteins Glasfenster ist damit abgeschlossen, jedenfalls was den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 anbelangt.

Nach dem ersten Projektjahr weisen jedoch einige Werke weiterhin Lücken in ihrer Historie auf. Auf unseren Social Media-Kanälen machen wir diese unter #wissensluecken sichtbar und rufen gleichzeitig zur Mitwirkung an der Aufarbeitung auf. Eines der Werke, dessen Schicksal nur unvollständig dokumentiert vorliegt, ist Erich Heckels Römisches Stilleben (1909). Der Künstler hatte die Komposition zu einem unbekannten Zeitpunkt verworfen, mit Grundierung übertüncht und somit die Darstellung einer Sandgrube von 1912 auf der anderen Seite der Leinwand zur Vorderseite erklärt. 1965 veröffentlichte die Düsseldorfer Galerie Grosshennig eine Abbildung des Werkes in einem Katalog mit dem Titel Sandabfuhr am Tiber. Spätestens Anfang der 1970er-Jahre wurde das verdeckte Stillleben freigelegt, denn 1973/74 publizierte die Galerie nicht mehr die vom Künstler ausgewählte Seite, sondern das Römische Stilleben. Als solches gelang 1977 auch der Verkauf an das Brücke-Museum. Für die Recherchearbeit bedeutet dies gewissermaßen zwei Bilder zu verfolgen und vor allem die Jahrzehnte vor der Wandlung näher zu betrachten: Im Katalog zur Ausstellung Paula Modersohn und die Maler der Brücke in der Kunsthalle Bern (1948) war dem Werk der Hinweis beigefügt, dass es sich in Duisburger Privatbesitz befände. 1955 war das Bild dann Teil einer Sammlungspräsentation des Duisburger Metallwarenfabrikanten Wilhelm Buller 3, sodass wir wohl von einer Zugehörigkeit des Gemäldes zu dessen Sammlung im Jahr 1948 ausgehen dürfen. Die entsprechende Nummer im Ausstellungskatalog von 1955 enthält den Vermerk „Sandgrube, Öl, vor 1924“. Vielleicht ist dies ein Indiz dafür, dass Buller das Bild vor 1924 angekauft hat, da die Jahreszahl keinesfalls mit der Datierung der Sandabfuhr (1912) korrespondiert. Obwohl zum jetzigen Zeitpunkt keine Verdachtsmomente in Hinblick auf NS-Raubkunst vorliegen, sollte die Prüfung fortgeführt werden.

Mit der Untersuchung von Papierarbeiten erweitern wir seit Anfang 2020 die Provenienzrecherche am Haus: Aus dem umfangreichen Bestand an Zeichnungen, Aquarellen und Pastellen des Brücke-Museums wählten wir für das zweite Projekt ein Konvolut von rund 260 Werken der Künstler Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel, Max Pechstein und Otto Mueller aus, wobei der Fokus auf den 196 Papierarbeiten von Ernst Ludwig Kirchner liegt. Die Ausgangssituation bei der Einordnung der Papierarbeiten ist schwieriger, weil Erwerbsvorgänge zu Arbeiten auf Papier im Brücke-Museum in der Vergangenheit weniger ausführlich dokumentiert wurden als etwa die Eingänge von Gemälden.

So existiert beispielsweise zu Max Pechsteins Aquarell Die Berliner Secession gratuliert Max Osborn zum 60. Geburtstag (1930) lediglich eine Rechnung der Galerie Kurt Meissner aus Zürich vom 21.11.1984 – ohne jegliche Angabe zur historischen Einordnung des Objekts. In der Erwerbsakte liegt zwar ein Austausch zwischen Kurt Meissner und Leopold Reidemeister ab, die Provenienz thematisierten die beiden in diesem Briefwechsel jedoch nicht.

Max Osborn war jüdischer Kunstschriftsteller und Journalist in Berlin.4 1922 veröffentlichte er eine ausführliche Publikation über Max Pechstein. Bereits im Frühjahr 1933 verlor Osborn sein Anstellungsverhältnis beim Ullstein Verlag, wo er lange für die Vossische Zeitung geschrieben hatte. Anlässlich der Versteigerung von Teilen seiner Bibliothek und Kunstsammlung lieferte er die Gratulationskarte im September 1933 in eine Auktion bei Max Perl, Berlin ein. Unklar ist momentan aber, ob die Karte bei Perl auch verkauft wurde. Die eingesehenen Akten im Landesarchiv Berlin und im Entschädigungsamt Berlin erwähnen weder die Auktion bei Perl 1933, noch die Gratulationskarte. Im November 1938 emigrierten Max und Martha Osborn zunächst nach Frankreich, 1941 über Portugal weiter nach New York, wo Max Osborn 1946 verstarb. Das in Berlin eingelagerte Umzugsgut wurde beschlagnahmt und im Oktober 1942 versteigert. Durch verschiedene Aussagen in den Wiedergutmachungsakten kann vermutet werden, dass sich im Umzugsgut neben Bildern von Max Pechstein, Eugen Spiro und anderen auch die Autographen-Sammlung von Max Osborn befunden hat. Aufgrund der gezeigten Informationslage kann ein verfolgungsbedingter Verlust des Objekts momentan nicht ausgeschlossen werden, da unklar ist, wann und unter welchen Umständen die Gratulationskarte den Besitz von Max Osborn verlassen hat. Das Brücke-Museum hat sich daher entschlossen, eine Fundmeldung der Karte in der Lost Art-Datenbank zu veröffentlichen.5 Auf diesem Weg erhoffen wir uns weiterführende Hinweise zur Provenienz.

Nicht alle Werkbiografien lassen sich heute noch aufklären, aber jede Facette trägt zur Aufarbeitung der eigenen Sammlungsgeschichte bei. Wir wollen weiterhin transparent mit den Lücken arbeiten und einen Forschungsstand schaffen, der es erlaubt mit der Thematik konstruktiv umzugehen. Hierzu gehört eine nachhaltige Dokumentation, die über die Projekte hinaus nutzbar bleibt, um sukzessive präzisiert zu werden.


Nadine Bauer ist Provenienzforscherin. Nach ihrem Studium in Münster, Berlin und Wien absolvierte sie ein Volontariat an den Staatlichen Museen zu Berlin und war am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg tätig. 2020 legte sie ihre Promotion zur Münchner Galerie Almas und deren Anteil am Kunsthandel während der NS-Zeit vor.

  • 1
    Günter Krüger, „Glasmalereien der Brücke-Künstler“, in: Leopold Reidemeister (Hg.), Brücke-Archiv, 1 (1967), S. 26f.
  • 2
    S. zu Herbert Tannenbaum u.a.: Gregor Langfeld, „Bereicherung durch neue Erwerbsquellen. Moderne Kunst deutscher Flüchtlinge in der Sammel- und Ausstellungsstrategie des Amsterdamer Stedelijk Museums, in: Uwe Fleckner; Thomas W. Gaehtgens; Christian Huemer (Hg.), Markt und Macht. Der Kunsthandel im Dritten Reich, Schriftenreihe der Forschungsstelle Entartete Kunst, 12 (2017), S. 355–377.
  • 3
    Freundlicher Hinweis von Andreas Benedict, Lehmbruck Museum, Duisburg. Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen (Hg.), Sammlung Wilhelm Buller, Ausst.-Kat., Düsseldorf, 1955 (Nr. 114).
  • 4
    S. zu Max Osborn u.a.: Andreas Zeising „Ein bekannter Unbekannter. Der jüdische Kunstschriftsteller Max Osborn“, in: Stephanie Marchal; Andreas Zeising; Andreas Degner (Hg.), Kunstschriftstellerei. Konturen einer kunstkritischen Praxis, Praktiken der Kritik, 1 (2020), S. 244–275.
  • 5
    Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Lost Art-Datenbank, Lost Art-ID 595264.