Die Kunsthistorikerin Rosa Schapire

Valentina Bay
Wissenschaftliche Volontärin am Brücke-Museum

Die Kunsthistorikerin Rosa Schapire wurde 1874 in Brody (Galizien, heute Ukraine) als vierte von fünf Schwestern in eine jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren. Sie wuchs in einer multiethnischen Gesellschaft auf, die sie nachhaltig prägte. Neben ihrer Muttersprache Deutsch sprach sie Polnisch, Französisch und Russisch.

Hamburg

Vermutlich aufgrund finanzieller Schwierigkeiten zog die Familie 1893 nach Hamburg. Dort war Schapire zunächst als Kontoristin bei den Elektrizitätswerken tätig. Sie engagierte sich gemeinsam mit ihrer Schwester Anna aktiv in der Frauenbewegung und verfasste feministische Texte zur Emanzipation der Frau, in denen sie diagnostiziert, dass eine finanzielle Unabhängigkeit vom Mann zentral und auch erreichbar sei.1

Zeitgleich entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Kunst. Als eine der ersten Frauen studierte sie Kunstgeschichte in Bern und Heidelberg und schloss ihr Studium 1904 mit einer Doktorarbeit zu dem Frankfurter Maler Johann Morgenstern ab.2 Anschließend kehrte sie nach Hamburg zurück. Doch eine Karriere an der Universität oder einem Museum blieb ihr im kaiserzeitlichen Deutschland aufgrund ihres Geschlecht verwehrt, und so schlug sie eine Laufbahn als freie Kunsthistorikerin ein. Sie arbeitete als Autorin und Übersetzerin, hielt kunstwissenschaftliche Vorträge und gab Führungen durch die Hamburger Museen. Durch ihre kommunikative Art baute sie sich ein großes Netzwerk mit Künstler*innen und Kunstinteressierten auf.

Förderung der Brücke

1906 kam sie durch einen Vortrag des Hamburger Frauenclubs mit den Werken der Brücke-Künstler in Kontakt. Begeistert von ihrer modernen, farbintensiven Bildsprache wurde sie passives Mitglied und Unterstützerin der Künstlergruppe. Wie kaum jemand anderes förderte und begleitete sie die Künstler, vermittelte ihnen neue Sammler*innen und Ausstellungen. Aus Dank schenkten sie ihr Werke. So entstand über die Jahre eine außergewöhnliche und persönliche Sammlung.3

Eine besonders enge Freundschaft pflegte Schapire mit Karl Schmidt-Rottluff. Die energische Kunsthistorikerin und der eher ruhige Künstler trafen 1908 das erste Mal aufeinander und verstanden sich auf Anhieb. 1924 publizierte sie sein erstes Grafik-Werkverzeichnis. Der Brücke-Künstler drückte seinen Dank in mehreren Porträts, in personalisierten Signets und Briefpapier sowie handgefertigtem Schmuck aus. Er gestaltete sogar die Wände und Möbel ihrer Wohnung – für Schapire „der schönste profane Raum Europas“.4

Die Flucht vor dem NS-Regime

Das Jahr 1933 und die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete für Schapire einen massiven Einschnitt. Ihre Handlungsspielräume wurden immer kleiner. Als Jüdin und Förderin der modernen, vom NS-Regime diffamierten Kunst nahmen ihre Aufträge zusehends ab. 1935 erhielt sie sogar Hausverbot in der Bibliothek der Hamburger Kunsthalle, nachdem sie sich über die Entfernung der modernen Kunst aus den Ausstellungsräumen beschwert hatte. 1937 hing Schmidt-Rottluffs Holzschnitt-Porträt von ihr in der Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“.

Trotz zunehmender Repressalien haderte sie lange mit dem Entschluss, Deutschland zu verlassen. Sie fühlte sich Hamburg sehr verbunden und den modernen Künstler*innen in Deutschland zu Beistand verpflichtet. Erst 1938 entschied sie sich schließlich zur Emigration. Doch als das Visum für die Ausreise in die USA auf sich warten ließ, änderte sie ihre Pläne im August 1939 und sie floh mit nicht mehr als 10 Reichsmark nach England. Gerade noch rechtzeitig - zwei Wochen später überfiel Deutschland Polen und der Zweite Weltkrieg begann.

Vermutlich durch die Hilfe Londoner Freund*innen konnte sie einen großen Teil ihrer Sammlung an den deutschen Behörden vorbei nach London retten, darunter viele Werke von Schmidt-Rottluff. Ihr in einem Hamburger Hafenlager verbliebener Besitz, darunter Bücher, einige Grafikmappen und die Möbel von Schmidt-Rottluff, wurden in einem Hafenlager beschlagnahmt, versteigert und verschwanden.5

Neuanfang in London

In London hatte es die Kunsthistorikerin nicht leicht. Mit über 50 Jahren musste sie sich in einem fremden Land ein zweites Mal ein berufliches Standbein aufbauen. Durch ihren Fleiß und ihre Hartnäckigkeit gelang es ihr jedoch, erneut Fuß zu fassen. Sie übernahm wissenschaftliche Recherchen, übersetzte Texte und schrieb Ausstellungs- und Buchrezensionen, u.a. für die Zeitschrift Weltkunst.6

Auch das Engagement für ihren Freund Schmidt-Rottluff führte sie fort. In England, wo man dem deutschen Expressionismus als Kunst des ehemaligen Feindes skeptisch gegenüberstand, versuchte sie bis zu ihrem Tod 1954 Museen und Kunstinteressierte von seiner Kunst zu überzeugen. Es ist Schapires Ausdauer zu verdanken, dass 1953 die erste Ausstellung des Künstlers in England am Leicester Museum stattfand. Ein Jahr später erlitt die Kunsthistorikerin beim Besuch der Londoner Tate Gallery einen Herzinfarkt – unweit jenes Porträts, das Karl Schmidt-Rottluff 1915 von ihr gemalt hatte. Sie hatte es kurz zuvor dem Museum geschenkt.

  • 1
    Rosa Schapire, “Ein Wort zur Frauenemanzipation“ in: Sozialistische Monatshefte, Bd. 1, 1897 S. 510-517.
  • 2
    Rosa Schapire, Johann Ludwig Ernst Morgenstern. Ein Beitrag zu Frankfurts Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert“, Diss. Univ. Heidelberg, Straßburg 1904
  • 3
    Übersicht bekannter Werke aus der Sammlung Schapire, siehe Ausst. Kat. Rosa. Eigenartig grün. Rosa Schapire und die Exprssionisten, hg. v. Leonie Beiersdorf, Museum für Kunst und Gewerbe, 2009, Kunstsammlungen Chemnitz, 2010, Ostfildern 2009, S. 316-329.
  • 4
    Gerhard Wietek, „Dr. phil Rosa Schapire, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Bd. 9, Hamburg 1964, S. 131.
  • 5
    Vgl. Leonie Beiersdorf, „Wieder Boden unter den Füssen. Rosa Schapire in England (1939-1954), in: Ausst. Kat. Rosa. Eigenartig grün. Rosa Schapire und die Expressionisten, hg. v. Leonie Beiersdorf, Museum für Kunst und Gewerbe, 2009, Kunstsammlungen Chemnitz, 2010, Ostfildern 2009, S. 257-264.
  • 6
    Übersicht Schriftenverzeichnis Rosa Schapire siehe Bucru Dogramaci u. Günther Sandner (Hg.), „Rosa und Anna Schapire. Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900“, Berlin 2017, S. 257-270.