Künstler

Ernst Ludwig Kirchner

Geboren
6. Mai 1880, Aschaffenburg, Deutschland

Gestorben
15. Juni 1938, Davos, Schweiz

Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis mit Hut, 1905

Biografie

Kindheit und Jugend (1880–1901)

Ernst Ludwig Kirchner wird als ältester Sohn des Papierchemikers Ernst Kirchner und dessen Frau Maria Elise in Aschaffenburg geboren.1 Dort lebt er mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Brüdern, bis die Familie 1886 nach Frankfurt am Main zieht. Bereits in seiner Kindheit verbringt Kirchner mit seiner Familie einige Jahre in der Schweiz, genauer in Perlen bei Luzern (1887–1889). Hier noch Vize-Direktor einer Papierfabrik wird Kirchners Vater 1890 an die Gewerbe-Akademie nach Chemnitz berufen, wo er von nun an den Lehrstuhl für Papierforschung innehat. In Chemnitz besucht Kirchner das Gymnasium, das er 1901 mit dem Abitur abschließt. Auch Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel gehen in Chemnitz zur Schule, besuchen allerdings eine andere Einrichtung. Kontakt zwischen Kirchner und seinen beiden späteren Brücke-Kollegen besteht hier noch nicht.

Architekturstudium in Dresden und Gründung der Brücke (1901–1911)

Kirchner geht für das Architekturstudium nach Dresden und schließt es 1905 als Diplomingenieur ab. 1903/4 verbringt er ein Semester in München, wo er an der Königlichen Bayerischen Technischen Hochschule studiert. Parallel dazu besucht er die private Kunstschule der Künstler Wilhelm von Debschitz und Hermann Obrist und lernt dort Kompositionslehre und Aktzeichnen. Während seiner Zeit in Dresden macht Kirchner zunächst Bekanntschaft mit dem Kommilitonen Fritz Bleyl und lernt später auch Heckel und Schmidt-Rottluff, ebenfalls Architekturstudenten, kennen. Die vier verbindet ein großes Interesse an Kunst und die gemeinsame Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmitteln. Am 7. Juni 1905 gründen sie die Künstlergruppe Brücke. Das ein Jahr später formulierte Programm schnitzt Kirchner in Holz. 1905 beginnt er mit den sogenannten Viertelstundenakten. Das rasche Zeichnen nach Aktmodellen praktiziert die Gruppe im Atelier und im Freien. Regelmäßige und ausgedehnte Sommeraufenthalte in wechselnder Gemeinschaft werden in dieser Zeit für die Gruppe und ihre Arbeitsweise kennzeichnend. Kirchner zieht es vornehmlich an die Moritzburger Teiche nahe Dresden (1909–1911) und auf die Ostseeinsel Fehmarn (1908, Sommer 1910 und 1912–1914). In Dresden und später auch in Berlin studiert Kirchner die Werke außereuropäischer Kunst in den ethnologischen Museen und beginnt, seine Eindrücke unter anderem in Skulpturen und Möbeln anzueignen.

Kirchners Berliner Zeit (1911–1914)

Im Herbst 1911 zieht Kirchner nach Berlin und folgt damit Heckel sowie Max Pechstein in die Hauptstadt. Er bezieht ein Wohnatelier in der Durlacher Straße in Berlin-Wilmersdorf. Im selben Haus, in unmittelbarer Nähe zum Künstlertreff Bieberbau, wohnt auch Pechstein. Um Geld zu verdienen, gründen die beiden das MUIM-Institut (Moderner Unterricht in Malerei), welches sie jedoch schon 1912 erfolglos wieder aufgeben müssen. Zahlreiche Kontakte in die Berliner Literaturszene, wie beispielsweise mit dem Autor und Psychiater Alfred Döblin, dem jungen Literaten Simon Guttmann oder zu dem Zentralorgan der expressionistischen Lyrik Der Sturm, entstehen in dieser Zeit. Nach einer kurzen Romanze mit der Tänzerin Gerda Schilling wird deren ältere Schwester Erna Schilling ab 1912 Lebensgefährtin des Künstlers. In seinem Werk nimmt die unmittelbare Umgebung eine zentrale Rolle ein, Stadtansichten der Metropole werden bestimmend. 1913 stellt er im Rahmen der in New York, Boston und Chicago gastierenden Ausstellung Armory Show aus. Diese für Furore sorgende Ausstellung zeitgenössischer Kunst stellt nicht nur die europäischen Avantgarden zum ersten Mal dem US-amerikanischen Publikum vor, auch Kirchner erlebt hier sein Debut auf dem Kontinent. Angeregt durch Pechsteins Ausscheiden aus der Künstlergruppe arbeiten die verbleibenden Mitglieder an der Chronik der KG Brücke, für die Kirchner 1913 den Text verfasst. Sein Vorschlag wird von den anderen Brücke-Künstlern abgelehnt, der Zusammenhalt der Gruppe zerbricht. Am 27. Mai 1913 löst sich die Brücke auf. Ende 1913 bezieht Kirchner mit Erna Schilling ein Dachatelier in der Körnerstraße, im gut situierten Berlin-Steglitz. Seine Ateliers arbeitet Kirchner stets zu Gesamtkunstwerken um.2 Sein Umfeld dokumentiert er durch Fotografien – eine Technik, die er von Schmidt-Rottluffs späterer Ehefrau Emy Frisch erlernt hatte.3 Die Stadtansichten finden in dieser Zeit in den sogenannten Straßenszenen ihren Höhepunkt. 1914 folgt eine für den Künstler wichtige Einzelausstellung im Kunstverein Jena, in deren Folge sich enge Freundschaften mit dem Archäologen Botho Graef, dessen Freund Hugo Biallowons und dem Philosophen Eberhard Grisebach, dem Leiter des Jenaer Kunstvereins, entwickeln. In diesem Jahr lernt er auch den Architekten Henry van de Velde anlässlich einer Präsentation auf der Kölner Werkbundausstellung kennen. Den Sommer 1914 verbringen Kirchner und Erna Schilling letztmalig auf Fehmarn, bis sie wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nach Berlin zurückkehren müssen.

Der Erste Weltkrieg (1914–1917)

Kirchner plagen Ängste vor dem Krieg und davor, für den Kriegsdienst eingezogen zu werden. Um dem zuvorzukommen und die Waffenwahl selbst vornehmen zu können, meldet sich der Künstler freiwillig. Bereits während der Ausbildung muss er den Dienst jedoch aufgrund körperlicher und psychischer Leiden abrechen, er wird freigestellt und schließlich dienstuntauglich geschrieben. Es folgen Aufenthalte in verschiedenen Sanatorien, darunter in Königstein im Taunus, in Berlin und in der Schweiz.4 Der Aufenthalt in Davos wird vermittelt durch Eberhard Grisebach, dessen Frau die Tochter der dort ansässigen Arztfamilie Spengler ist.

Umzug in die Schweiz (1917–1918)

Im Mai des Jahres reist Kirchner wiederum in die Schweiz und verbringt den Sommer auf der Stafelalp oberhalb von Davos, wo er unter anderem von Henry van de Velde besucht wird. Ab September hält sich Kirchner den Herbst und Winter auf Anraten van de Veldes im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen auf. In dieser Zeit entstehen zahlreiche Druckgrafiken, die das Klinikpersonal und Kirchners Mitpatient*innen zeigen. Er schließt neue Bekanntschaften wie mit dem Schriftsteller Leonhard Frank und auch mit der Künstlerin Nele van de Velde, der Tochter von Henry van de Velde, zu deren Mentor Kirchner werden wird. Während dieser Zeit führt seine Lebensgefährtin Erna Schilling die Geschäfte des Künstlers in Berlin weiter und pflegt dessen persönliche Kontakte in Deutschland. Im Mai 1918 errichtet Kirchner im Andenken an den im April 1917 verstorbenen Botho Graef für den Jenaer Kunstverein die Botho-Graef-Stiftung und schenkt der Institution über 250 Blatt Druckgrafik und Zeichnungen. Im Juli des Jahres kehrt er zurück nach Davos.

Lärchen- und Wildbodenhaus (1918–1926)

Nachdem er den Sommer abermals auf der Stafelalp verbracht hat, bezieht Kirchner im September 1918 ein Haus der Hofgruppe In den Lärchen in Davos Frauenkirch. Der Künstler beginnt mit der skulpturalen Ausstattung des Hauses und erschließt sich seine neue Umgebung, wie bereits zu Berliner Zeiten, im Medium der Kunst. Es entstehen Alpenlandschaften, die in ihrer charakteristischen Farbigkeit zu den Hauptwerken der frühen Davoser Jahre gehören. Aus Berlin schickt Erna Schilling erste Sendungen seines Hausstandes, darunter die Druckerpresse und Teppiche. Auch übersendet sie zahlreiche Gemälde, aufgerollte Leinwände. Die Rahmen der Bilder verbleiben zumeist in Berlin. In der Schweiz beginnt Kirchner, die Werke neu zu rahmen. Kirchner fertigt außerdem Entwürfe für Stickereien für Erna Schilling und die Frau seines behandelnden Arztes, Helene Spengler. 1920 publiziert er erstmalig unter dem Pseudonym Louis de Marsalle. Da in Kirchners Augen bislang niemand die Essenz seines Werkes und die künstlerische Entwicklung wahrheitsgemäß wiedergegeben habe, schreibt sein kunstschriftstellerisches Alter Ego über ihn. Eine große Ausstellung Kirchners im Berliner Kronprinzenpalais 1921 mit 50 Werken zeigt, dass er trotz seiner Distanz in den Kunstzentren einflussreich bleibt. Im selben Jahr stirbt Kirchners Vater. Im Mai lernt Kirchner während eines Aufenthalts in Zürich die Tänzerin Nina Hard (1899–1971) kennen. Sie wohnt den Sommer über bei ihm und steht für zahlreiche Bilder Modell. Kurz darauf macht er die Bekanntschaft von Lise Gujer (1893–1967). Die Weberin wird Kirchner viele Jahre begleiten und mit ihm gemeinsam die Arbeit an den textilen Werken vorantreiben.5 Erna Schilling zieht nun dauerhaft nach Davos. Die Wohnung in Berlin geben die beiden auf. 1922 hat Kirchner erstmals Kontakt mit dem Davoser Sanatoriumsarzt Frédéric Bauer (1883–1957), der in den Folgejahren zu einem seiner wichtigsten Sammler und Förderer wird. Nach Auseinandersetzungen mit seinen Vermietern, der Familie Müller, und einem Bruch mit den Familien Spengler und Grisebach mietet Kirchner das Haus auf dem Wildboden in Davos Frauenkirch. Bauer übernimmt nun die ärztliche Betreuung Kirchners. Das Ehepaar Schiefler verbringt längere Zeit mit Kirchner im Wildbodenhaus, da Gustav Schiefler das erste Werkverzeichnis seiner druckgrafischen Arbeiten erstellen will. Sämtliche Gäste werden von Kirchner in seinen Werken oder auch fotografisch festgehalten. Derer gibt es viele auf dem Wildboden: Der Basler Künstler Hermann Scherer (1893 –1927) besucht Kirchner beispielsweise 1923, 1924 folgt Edwin Redslob (1884–1973), Reichskunstwart der Weimarer Republik. In der Silvesternacht 1924/25 wird von den drei Basler Schülern Kirchners – Paul Camenisch (1893–1970), Albert Müller (1897–1926) und eben Scherer – die Künstlergruppe Rot/Blau gegründet. Obwohl er so abgeschieden fernab der Kunstmetropolen lebt, ist Kirchner dank der häufigen Besuche in den 1920er-Jahren bestens informiert. Besondere Anerkennung für seine Arbeit erhält er durch zahlreiche Ausstellungen. In Berlin wird 1925 im Rahmen der Frühjahrsausstellung der Preußischen Akademie der Künste sein Schweizer Werk gewürdigt, er erhält für das Gemälde Junkerboden dort den Preis der Republik.

Kirchners Deutschlandreise und die späten Zwanziger (1925–1929)

Von Dezember 1925 bis März 1926 reist Kirchner erstmals wieder nach Deutschland. Wollte er in den Jahren zuvor nichts mehr mit seinem Geburtsland zu tun haben, so hat er nun die Absicht, nicht nur seine Mutter zu besuchen, sondern vor allem Kontakte zu knüpfen. Die Reise führt ihn nach Frankfurt, Chemnitz, Dresden und Berlin. In Berlin trifft er auf Schmidt-Rottluff, der ihn zur Gründung einer neuen Künstlervereinigung bewegen will. Kirchner lehnt ab. Im Anschluss an den längeren Deutschlandaufenthalt überlegt er, tatsächlich die Schweiz zu verlassen und zurückzuziehen. Von da an hält sich der Künstler öfter in Deutschland auf – auch Erna Schilling reist ab 1929 regelmäßig gesundheitsbedingt für Behandlungen nach Berlin. Mit Beginn der 1930er-Jahre zerschlagen sich sämtliche Umzugspläne. Kirchner beobachtet die politischen Entwicklungen im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland erst mit Neugier, dann mit Sorge. Eine Rückkehr kommt nicht mehr in Frage.

Die 1930er-Jahre (1930–1938)

In den späten 1920er-Jahren werden Kirchner zahlreiche Ausstellungen gewidmet, 1928 ist er auf der Biennale in Venedig vertreten. Mit dem Direktor des Folkwang Museums in Essen, Ernst Gosebruch, ist er über die Ausgestaltung des Festsaals des Museums mit Wandmalereien im Gespräch; ein Projekt, das nie realisiert wird. 1931 nimmt er an der Ausstellung German Paintings and Sculpture im Museum of Modern Art in New York teil, 1933 wird ihm eine bedeutende Retrospektive in der Kunsthalle Bern gewidmet. Anlässlich dieser erscheint im ausstellungsbegleitenden Katalog, den Kirchner auf das Engste mit betreut, der letzte Aufsatz von Louis de Marsalle – Kirchner lässt sein Pseudonym 1933 sterben. Angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung und damit verbundener Einbußen in Verkäufen sucht der Künstler aktiv den Kontakt in die US-amerikanische Szene. Dass seine Werke 1937 von den Nationalsozialisten aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt und als Teil der Ausstellung Entartete Kunst diffamiert werden, verletzt Kirchner sehr. Im selben Jahr schließt ihn die Preußische Akademie aus, der er erst 1931 beigetreten war. Der Anschluss Österreichs an Deutschland am 13. März 1938 schürt seine Angst vor einer deutschen Invasion der Schweiz. Vorsorglich zerstört der Künstler einen Teil seiner Druckstöcke und Skulpturen. Dass zu seinem 58. Geburtstag am 6. Mai 1938 keine Glückwünsche aus Deutschland eintreffen, steigert nicht nur die Einsamkeit, auch erscheint ihm die Lage in Deutschland und dessen Zukunft umso hoffnungsloser. Noch im Juni sagt Kirchner die geplante Hochzeit mit Erna ab. Er nimmt sich kurz darauf, am 15. Juni 1938 vor seinem Haus auf dem Wildboden das Leben. Kirchner wird im nahegelegenen Davoser Waldfriedhof begraben. Auf seiner Staffelei steht zu diesem Zeitpunkt das Gemälde Schafherde, das sich heute in der Sammlung des Brücke-Museums befindet.

Katrina Schulz

  • 1
    Die Beschreibungen zum Leben und Wirken Kirchners orientieren sich unter anderem an dem ausführlichen Lebenslauf, der auf der Website des Kirchner Museum Davos abgerufen werden kann, und an dem Werkverzeichnis der Gemälde von Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner, Cambridge, Massachusetts 1968.
  • 2
    Siehe hierzu auch: Hanna Strzoda, Die Ateliers Ernst Ludwig Kirchners. Eine Studie zur Rezeption ‚primitiver‘ europäischer und außereuropäischer Kulturen, Petersberg 2006.
  • 3
    Zu den Fotografien des Künstlers siehe: Kirchner Museum Davos (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Fotografien – Werkverzeichnis und Kommentar. Salenstein 2005.
  • 4
    Brücke-Museum (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Die Schweizer Jahre. Aus der Sammlung E.W. Kornfeld, Berlin 2019.
  • 5
    Bündner Kunstmuseum (Hrsg.), Bildteppiche von Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer. Ein Werkkatalog der Entwürfe, Zürich 2009.