Die Ajanta-Zeichnungen: Kirchners imaginäres Indien

Sol Izquierdo de la Viña
Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Universidad Complutense de Madrid

Im Jahr 1910 fertigte der Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner eine Reihe von mehr als 30 Zeichnungen mit Motiven aus den Wandmalereien der buddhistischen Höhlentempel von Ajanta an. Fünf davon sind heute im Besitz des Brücke-Museums in Berlin. Die Ajanta-Höhlen befinden sich in einer Klippe am Flusslauf des Waghora im heutigen indischen Bundesstaat Maharashtra. Die 31 Felsenhöhlen bilden einen buddhistischen Kloster- und Schreinkomplex, der zahlreiche Skulpturen, Reliefs und Wandmalereien bewahrt. Als die ältesten in Südasien erhaltenen Wandgemälde – schätzungsweise aus dem 5. Jahrhundert – enthalten sie buddhistische Symbole und auch die sogenannten Jātaka-Szenen, Darstellungen lehrreicher Erzählungen über die früheren Existenzen des Buddha und aus dem Leben des Buddha Siddhartha Gautama. Die Höhlentempel von Ajanta waren nicht nur eine Pilgerstätte, sondern auch eine wichtige Enklave der Seidenstraße. Mit dem Rückgang des Buddhismus in Indien, der etwa seit dem 6. Jahrhundert einsetzte, wurden sie verlassen und Pflanzen überwucherten bald den Ort. Kirchner verarbeitete buddhistische Darstellungen aus den Ajanta-Höhlenmalereien in seinen Papierarbeiten. Doch: Wie war es Kirchner überhaupt möglich, diese indischen Wandgemälde kennenzulernen?

Die westliche Geschichtsschreibung datiert die „Entdeckung“ der Ajanta-Höhlen durch englische Kolonisatoren auf das Jahr 1819. Diese Datierung geht aus einer Inschrift eines englischen Offiziers in einer der Höhlen hervor. Die Engländer verfassten die ersten archäologischen Berichte und fertigten Kopien sowie fotografische Reproduktionen der Wandgemälde an, die dann in Europa Verbreitung fanden. So übertrug etwa der Maler John Griffiths die Szenen in großformatige Ölgemälde, die er später in der zweibändigen Publikation The Paintings in the Buddhist Cave-Temples of Ajanta (1896/1897)1 als farbige und Schwarz-Weiß-Lithografien reproduzierte. Griffiths Projekt fand im Rahmen der im Jahr 1861 von britischen Archäologen und Kolonialbehörden gegründeten Organisation Archaeological Survey of India statt. Ihr Ziel war eine systematische Dokumentation der Denkmäler im indischen Gebiet mit dem kolonialen Vorhaben, die Reichtümer des englischen Kolonialreichs zu erfassen und bekannt zu machen. Deshalb wurden Griffiths Ajanta-Kopien nach London geschickt und dort reproduziert.

Fast ein Jahrhundert nach der ersten europäischen Begegnung mit den Wandgemälden fand Kirchner die von Griffiths herausgegebenen Bände mit Lithografien in der Bibliothek des Dresdener Königlichen Zoologischen und Anthropologisch-Ethnographischen Museums und fertigte zahlreiche Zeichnungen nach ihnen an. Auf diese Weise wurde die Reise der Ajanta-Bilder von Indien nach Europa nicht nur einem transregionalen Prozess zwischen unterschiedlichen Kulturen und Epochen, sondern auch zu einem Transfer zwischen verschiedenen Medien. Kirchners Begegnung mit Ajanta fand somit in einem größeren Kontext der Rezeption von Artefakten aus nicht westlichen Kulturen statt, die in die deutschen Museen unter den politischen Bedingungen des Kolonialismus gelangt waren.

Der Künstler selbst beschrieb seine Faszination für die Ajanta-Wandmalereien und den Schaffensprozess seiner Zeichnungen in autobiografischen Schriften: „Bald genügte mir die einfache Art der Palaubalken und der griechischen Vasen nicht mehr, ich begann nach mehr Wärme und vollerer Form zu suchen. […] Durch Zufall fand ich Griffiths Indische Wandmalereien in Dresden in der Bibliothek. Diese Werke machten mich fast hilflos vor Entzücken. Diese unerhörte Einmaligkeit der Darstellung glaubte ich nie erreichen zu können, alle meine Versuche kamen mir hohl und unruhig vor. Ich zeichnete vieles an den Bildern ab, um nur einen eigenen Stil zu gewinnen…“2

Kirchners Zeichnungen nach Ajanta zeigen die vom Künstler aus den Bildtafeln des Griffiths-Bandes ausgewählten Motive. Er setzte hauptsächlich halb nackte weibliche Figuren mit üppig erscheinendem Körperbau aus den Jātaka-Szenen ins Bild, die er vergrößerte und mehrmals darstellte. Ein Beispiel hierfür ist das Werk Akt mit Tuch I, deren Figur in einer zweiten Version (Akt mit Tuch II, Galerie Henze & Ketterer) mit einem schnelleren und dickeren Strich wieder auftaucht. Die abgebildete Frau wird durch weiblich gelesene Attribute, wie runde Brüste und breite Hüften, gekennzeichnet. Solche körperlichen Eigenschaften lassen sich auch in den Figuren weiterer Papierarbeiten aus der Sammlung des Brücke-Museums sowie in Kirchners gesamter Serie von Ajanta-Zeichnungen beobachten. Die Anziehungskraft der kurvigen Anatomie stimmte mit der klischeehaften Darstellung der orientalisierten Frau überein, deren Konzeption im westlichen Blick besonders seit der Romantik sexualisiert wurde. Die in Kirchners Briefen erwähnte Körperlichkeit und Sinnlichkeit der indischen Kunst3 galten also nicht nur als künstlerische Merkmale, sondern entsprachen auch dem Lebensideal des Künstlers, welches sich aus der Projektionsfläche des „imaginären Orients“ speiste.

Ein idealisiertes Indienbild war in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon lange populär. Als Ausgangspunkt der romantischen „Indomanie“ gilt die im Jahr 1791 erstellte deutsche Übersetzung des Dramas Die Anerkennung von Śakuntalā des indischen Dichters Kālidāsa.4 Die weibliche Protagonistin inspirierte Goethe zu seinem berühmten Gedicht Sakontala, in dem er das junge Mädchen Śakuntalā als „was reizt und entzückt“ vorstellt.5 Mit ähnlichen Worten, „fast hilflos vor Entzücken“, evozierte Kirchner in der bereits oben zitierten Schrift seine Faszination für die indischen Wandgemälde und fertigte 1907 selbst eine Lithografie-Serie zu Kālidāsas Drama an. Seit der Romantik verkörperte Śakuntalā ein Klischee-Bild Altindiens, das von Naivität, Naturverbundenheit und weiblicher Sinnlichkeit geprägt war. Auf diese Merkmale wies der romantische Dichter und Philosoph Johann Gottfried Herder in seinem Prolog des Dramas hin, denn diese auf Indien projizierte Idealisierung entsprach einer den romantischen Intellektuellen eigenen Sehnsucht. Solche Ideen verbreiteten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und vermischten sich in der europäischen Vorstellung mit den Erzählungen von Weltreisenden, ethnografischen Fotografien, Postkarten und unterschiedlichen Publikationen über die indische Kunst und Kultur.

Kirchner reiste nie nach Indien – im Gegensatz zu anderen Künstlern seiner Generation. Allerdings besaß er Bücher mit zahlreichen Abbildungen und besuchte die sogenannten „Völkerschauen“, Zurschaustellungen mit außereuropäischen Menschen, die als ein vermeintlich echter Teil „exotischer“ Regionen wie Indien in deutschen Städten präsentiert wurden. Eine der typischen Figuren solcher Inszenierungen waren indische Tänzerinnen. Zugleich fand Kirchner eine Darstellung einer tanzenden Frau in den Reproduktionen der Ajanta-Wandgemälde und zeichnete diese mehrmals nach, wie in der Zeichnung Tanzende Königin Sivali und Musikerinnen zu sehen ist. Diese indische Tänzerin wurde zuvor durch Goethes Legende Der Gott und die Bajadere als weibliche Figur zwischen Mystik und Erotik zum Mythos erhoben. Die Verbindung von Indien mit Erotik und Laszivität in der europäischen Imagination lässt sich bis zum orientalistischen Blick der Romantik zurückverfolgen. In den Ajanta-Wandgemälden waren ebenso erotische Szenen präsent, wie von Liebespaaren – auf Sanskrit mithuna genannt. Kirchner fand das von vornherein imaginierte Indien in Griffiths Platten vor und übertrug es in seinen Zeichnungen, beispielsweise in Paar mit Dienerinnen.

Die Ajanta-Wandgemälde waren einerseits ein formales Alternativmodell während Kirchners Suche nach einem „eigenen Stil“ abseits der naturalistischen Konventionen der akademischen Kunst. Andererseits boten sie ein Bild von Altindien, das der westlichen Idealisierung entsprach, welche keineswegs frei von rassistischen Vorurteilen und problematischen Geschlechtervorstellungen war. Neben den Ajanta-Zeichnungen finden sich auch in anderen Werken Kirchners Motive aus Indien. Ein Beispiel hierfür ist das Ölgemälde Frauen im Bade, auf dem üppige Frauen in der für Ajanta eigenen Ästhetik sowie in typischen Körperhaltungen zu sehen sind. Hier befinden sie sich allerdings wahrscheinlich in der Landschaft der Moritzburger Teiche – einem Ort, an dem sich der Brücke-Künstler im Sommer häufig aufhielt. Indische Kunst und Traditionen spielten eine wichtige Rolle im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Sie prägten Kirchners künstlerische Bestrebungen und Lebensideale und lassen sich sowohl in seinen Erfahrungen bei seinen Aufenthalten in der Natur als auch in der Gestaltung seiner Ateliers erkennen.

Sol Izquierdo de la Viña ist Doktorandin und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universidad Complutense de Madrid. Im Frühling 2019 absolvierte sie einen Forschungsaufenthalt im Brücke-Museum in Berlin. 2017 schloss sie den Master Kunstgeschichte im globalen Kontext an der Freien Universität Berlin ab. Im Zusammenhang mit dem Thema veröffentlichte sie folgenden wissenschaftlichen Aufsatz: „The Act of Drawing as Cultural Translation: Modern Depictions of an Ajanta’s Dancer“, in: La traducción cultural en contextos artísticos. Revista de Estudios Globales y Arte Contemporáneo, 6 (2019), S. 147–182.

Der vorliegende Text basiert auf ihrer Forschung „Ausgehend von Śākuntala und Ajanta: Rezeption und Bilder Indiens im Werk Ernst Ludwig Kirchners aus einer transkulturellen Perspektive“ (Doktorarbeit auf Spanisch, 2020).

  • 1
    John Griffiths, The paintings in the Buddhist Cave-temples of Ajanta, Khandesh, India. Vol. 1. Pictorial Subjects, Vol. 2. Decorative details, London 1896/1897.
  • 2
    Ernst Ludwig Kirchner, „Die Arbeit E.L. Kirchners“ (1925/1926), in: Eberhard W. Kornfeld (Hg.), Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeichnung seines Lebens, Ausst.-Kat., Kunstmuseum Basel, 1979–1980, Bern 1979, S. 331–346, hier 333.
  • 3
    Siehe: Ernst Ludwig Kirchner, Brief an Nele, ohne Datum (1919-1920), in: Ernst Ludwig Kirchner, Briefe an Nele und Henry van der Velde, München 1961, S. 20-21; Ernst Ludwig Kirchner, Brief an Hansgeorg Knoblauch, 12.03.1929, in: Gertrud Knoblauch, (Hg.), Ernst Ludwig Kirchner, Briefwechsel mit einem jungen Ehepaar, 1927-1937, Elfriede Dümmler und Hansgeorg Knoblauch, Bern 1989, S. 68.
  • 4
    Kālidāsa, Sakontala oder der entscheidende Ring: ein indisches Schauspiel von Kalidas. Aus den Ursprachen Sanskrit und Prakrit ins Englische und aus diesem ins Deutsche übersetzt, mit Erläuterungen von Georg Forster, Mainz/Leipzig, 1791.
  • 5
    "Willst du die Blüthen des fruhen, die Früchte des späteren Jahres,/ Willst du was reizt und entzückt, willst du was sättigt und nährt,/ Willst du den Himmel, die Erde mit einem Namen begreifen, / Nenn' ich Sakontala dich, und so ist alles gesagt." Johann Wolfgang von Goethe, Sakontala, 1791, erstmal publiziert in: Deutsche Monatsschrift. Zitiert in: Dorothy Figueira, Translating the Orient: The Reception of Śākuntala in Nineteenth Century Europe, New York 1991, S. 12.