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Heil- und Pflegeanstalt Schöneberg (1863-1914)

Großstadtleben

Erich Heckel, Mann am Tisch sitzend, 1914, Radierung, Brücke-Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

„Wie viel Menschenelend bargen diese schattigen Bäume, diese weißen, reinlichen Mauern und diese mit kunstvollen Gittern versehenen Fenster! Einen harmlosen, fast heiteren Eindruck machte das weiße, langgestreckte Gebäude zwischen den grünen Bäumen des Gartens, mit den grünen Jalousien und Veranden. Aber schon beim Eintritt in den Hausflur änderte sich der Eindruck. Eine schwere[,] mit Gerüchen aller Art geschwängerte Luft schlug dem Besucher entgegen.“

Der Schriftsteller Otto Elster über die Heilanstalt Schöneberg, o. J. [zwischen 1870 und 1914]

Wie viele Künstler*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts faszinieren Erich Heckel Menschen am Rande der Gesellschaft, so auch Psychiatriepatient*innen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg ermöglicht ihm ein heute unbekannter Freund Zugang zur Heil- und Pflegeanstalt Schöneberg, wo der Künstler das Anstaltsleben in Skizzen festhält.

Aus heutiger Sicht sind Heckels Klinikbesuche als ein unangemessener Eingriff in die Privatsphäre der Patient*innen zu werten und die Bezeichnung dieser Personen, die sich wiederholt in den Bildtiteln findet, kritisch zu hinterfragen.* Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Diskurs um und der Umgang mit psychisch kranken Personen ein anderer: Häufig finden Einweisungen nicht aus medizinischen, sondern aus polizeilichen Gründen statt, was die Wahrnehmung der Kranken als „Kriminelle“ fördert. Ihre gleichsame Entrechtung beim Betreten der Anstalt verstärkt die Ausgrenzung aus der Öffentlichkeit.

In der privaten Heil- und Pflegeanstalt Schöneberg werden die Patient*innen entsprechend der kaiserzeitlichen Klassengesellschaft in „gute und schlechte“ Kranke unterteilt und getrennt behandelt: wohlhabende Bürger*innen auf der einen Seite und arme, arbeits- und obdachlose Menschen auf der anderen Seite. Anders als in Einrichtungen der öffentlichen Hand, wo körperliche Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen zum Alltag gehören, verfolgt man hier zumindest für die Privatpatient*innen im repräsentativen Vorderhaus eine Gesundung durch soziale Interaktion und Beschäftigung. Für die steigende Zahl mittelloser städtisch Eingewiesener, die sich in den prekären Erweiterungsbauten des Hinterhofs zwängen, werden repressivere Behandlungsmaßnahmen trotzdem üblich gewesen sein.

„In der brutalsten Gestalt zeigte sich das Elend in der Abteilung, in welcher die Gemeinde ihre mittellosen Kranken untergebracht hatte. Die Einrichtung der Schlaf- und Speisesäle war von primitivster Art. Das Haus[,] der Hof[,] die Zellen, sie unterschieden sich nicht von einem Gefängnis, nur daß auf dem Hofe einige Turngerätschaften angebracht waren.“

Der Schriftsteller Otto Elster über die Heilanstalt Schöneberg, o. J. [zwischen 1870 und 1914]

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mehren sich infolge von Unruhen und Ausbrüchen Forderungen in der Schöneberger Nachbarschaft, die Anstalt vor die Stadt zu verlegen. Erst die Umfunktionierung zum Reservelazarett 1914 stellt im kriegsbegeisterten Bezirk das Ansehen des Hauses wieder her. Aus wirtschaftlichen Gründen muss die Einrichtung nach Kriegsende dennoch schließen. Das Gebäude ist trotz städtebaulicher Veränderungen in Teilen bis heute erhalten.

Valentina Bay


* In diesen historischen Werktiteln werden menschenverachtende und abwertende Begriffe benutzt. Das Brücke-Museum vermeidet es, in aktuellen Texten diese Begrifflichkeiten zu wiederholen. Wir haben sie dennoch in den Werktiteln ausgeschrieben, da es sich um vom Künstler vergebenen Titel handelt.

Maison de Santé, Hauptstraße 14, vor 1909, Museen Tempelhof Schöneberg/Archiv, Inv. Hau 196a I Sig. T-Ss211

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