Potsdamer Platz
Berlin-Mitte/Tiergarten
Im Zweiten Weltkrieg zerstört
Seit den 1990er-Jahren: Neugestaltung
„Der Potsdamer Platz ist das Ausfallstor des Westens. Die Flutwelle des Berliner Verkehrs erreicht auf ihm ihren Höhepunkt.“
Aus: Reiseführer Berlin für Kenner, Berlin 1912
Der Potsdamer Platz ist Anfang des 20. Jahrhunderts der vielleicht verkehrsreichste und modernste Platz Europas. Seit Eröffnung des gleichnamigen Bahnhofs wenige Jahrzehnte zuvor hat er sich zum wichtigen Knotenpunkt für den Nah- und Fernverkehr entwickelt. Auch der in Steglitz lebende Ernst Ludwig Kirchner nutzt diese Anbindung in die Millionenmetropole ausgiebig. Regelmäßig stürzt er sich von hier aus in den Trubel der Großstadt. Kurz nach Zerfall der Künstlergruppe Brücke 1913 sucht er Zerstreuung in dem Gewirr des urbanen Lebens, welches ihn beim Hinaustreten aus dem alten Bahnhofsgebäude verlässlich erwartet. Tagsüber eilen Menschen zwischen modernen Straßenbahnen, von Pferden gezogenen Kutschen und Automobilen in die Büros und Geschäfte. Abends, im Schein der Leuchtreklamen, strömen Amüsierwillige in die vielen Varietés und Gaststätten.
„Ich glaube, die Hälfte der elektrischen Trams, von vier Seiten her einmündend, kreuzen hier, binnen weniger Minuten habe ich hundert gezählt […].“
Der französische Journalist Jules Huret in seinen Reiseerinnerungen, 1909
Kirchner faszinieren insbesondere die flanierenden Damen mit ihren figurbetonten Kleidern und ausladenden Federhüten. Nie bleiben sie stehen, blicken zurück oder sprechen mit anderen Passant*innen. Ihre Erscheinung entspricht der modischen bürgerlichen Frau des ausgehenden Kaiserreichs. So bewegen sich die damals auch „Kokotten“ genannten Sexarbeiter*innen unauffällig durch die Straßen der Friedrichstadt. Eigentlich ist Prostitution in Berlin seit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 untersagt, die Sittenpolizei ahndet hart. Doch das offizielle Verbot von Bordellen treibt das Gewerbe vor allem in die Illegalität und die Frauen auf die Straße. Hier versuchen sie, Männer mit gezielten Gesten und Blicken unauffällig auf sich aufmerksam zu machen. So waren die etwa 50.000 Prostituierten trotz Verbot an allen Ecken sichtbar. Kein Wunder, dass sie Kirchners Interesse wecken. Bei seinen Ausflügen an den Potsdamer Platz hält der Künstler sie in zahlreichen Zeichnungen und später in Gemälden fest.
Valentina Bay
Leipziger Straße
Redaktion und Verlag Der Sturm (1912–1913)
Kunstsalon Fritz Gurlitt (1905–1925)