Vergnügungsstadt Berlin

PD Dr. Daniel Morat
Privatdozent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin

Als die Künstler der Brücke 1911 aus Dresden nach Berlin zogen, bedeutete das auch einen Wandel in urbaner Intensität. Dresden war um 1900 mit ca. 500.000 Einwohner*innen ebenfalls schon eine Großstadt, in der die Effekte von Industrialisierung und Urbanisierung im täglichen Leben zu spüren waren. Doch Berlin, seit 1871 deutsche Reichshauptstadt und mit Siemens und AEG Zentrum der deutschen Elektroindustrie, war allen anderen deutschen Großstädten zu dieser Zeit schon weit enteilt. 1905 zählte Berlin zwei Millionen Einwohner*innen, am Vorabend des Ersten Weltkriegs war es die drittgrößte europäische Stadt nach London und Paris. Berlin war „der Parvenu der Großstädte und die Großstadt der Parvenus“ 1, wie der Industrielle und Politiker Walther Rathenau im Vergleich mit diesen anderen europäischen Metropolen bemerkte. Laut dem Kunstkritiker und Publizisten Karl Scheffler war es dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein“.2 Berlin war Baustelle und Baulärm, Verkehrs- und Kommunikationsdichte, war Tempo und Gedränge, Arbeit und Enge in den Mietskasernen. Berlin war aber auch kaiserliche Residenz und High Society, war Five-O’Clock-Tea im Adlon und Villenviertel im Grundwald. Und: Berlin war Vergnügungsmetropole, war Theaterhauptstadt und Tanz-Mekka, Zentrum der deutschen Filmwelt und Musikstadt.

Von den Mitgliedern der Brücke hat sich Ernst Ludwig Kirchner am intensivsten künstlerisch mit diesem Großstadttreiben auseinandergesetzt. Seine Bilder und Skizzen zeigen das Gedränge auf den Straßen, zeigen die Droschken in der Leipziger Straße und die elektrischen Trambahnen, die sich auf dem Nollendorfplatz kreuzen, die herausgeputzten Damen von Welt, die im Cafégarten ihre Federhüte zur Schau tragen, und die Kokotten, die sich vor den Schaufenstern der Herrenwelt anbieten. Und sie zeigen die Vergnügungsstadt Berlin, die Tänzerinnen im Varieté, die Diseusen im Café Chantant, die Stehgeiger im Musikrestaurant.

Spricht man heute von der Vergnügungsstadt Berlin, so denken die meisten wenn nicht an die Loveparade-Zeit, dann an die 1920er Jahre, die im Rückblick über den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus hinweg einen umso goldener schimmernden Glanz angenommen haben. Darüber gerät leicht in Vergessenheit, dass Berlin schon zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs ein Mekka für Vergnügungssuchende geworden war. In seinem Beitrag über das Nachtleben in dem Reiseführer Ich weiß Bescheid in Berlin von 1908 sparte der Schriftsteller Edmund Edel nicht mit Superlativen: „In keiner Stadt der Welt lachen die Nächte so laut und gellend wie in Berlin“.3 Auch andere Reiseführer priesen in diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Berliner Vergnügungskultur als einzigartig. So war etwa im Reiseführer Berlin für Kenner von 1912 zu lesen: „Das Berliner Nachtleben ist erwiesenermaßen mit dem Nachtleben keiner anderen Stadt, selbst nicht mit dem von Paris, zu vergleichen, und charakterisiert Berlin einzigartig als Weltstadt.“4

Im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Etablierung einer klaren Trennung von Arbeitszeit und Freizeit auch eine neue Form der Vergnügungsindustrie herausgebildet, die das zahlungskräftige Publikum mit immer neuen Vergnügungsangeboten versorgte. Diese Entwicklung vollzog sich in allen Mittel- und Großstädten Deutschlands. In Berlin als der größten deutschen Stadt potenzierte sie sich jedoch in besonderer Weise. So wurden hier in den Jahren um 1900 nicht nur neue Theater, Lichtspielhäuser, Tanzdielen und Vergnügungsparks gebaut, um die gestiegene Nachfrage nach den Vergnügungsangeboten zu befriedigen. Es entstand auch eine neue Art von Großveranstaltungshäusern, die bis zu 10.000 Personen Platz boten und in denen neben Bällen und Konzerten auch Sportveranstaltungen stattfanden. Zu diesen Multifunktionsarenen des Vergnügens zählten die 1905/06 errichteten Ausstellungshallen am Zoo, der 1908 eröffnete Eispalast in der Lutherstraße, der 1910 eröffnete Sportpalast in der Potsdamer Straße und der 1911 eröffnete Admiralspalast in der Friedrichstraße.

Das urbane Vergnügen spielte sich jedoch nicht nur in diesen geschlossenen Räumen ab. Besonders in Form der Populärmusik imprägnierte es den öffentlichen Raum der Stadt von früh bis spät. Kam man 1912 als „Fremdling und Gastfreund“ nach Berlin, so empfahl einem der gerade schon zitierte Reiseführer Berlin für Kenner, den Besuch mit einem Bummel durch die Stadtmitte zu beginnen.5 Von Unter den Linden, der „historischen Prachtstraße Berlins“, sollte der erste Weg zunächst die Friedrichstraße mit ihren Seitenstraßen hinunterführen bis zur Leipziger Straße, diese dann am Kaufhaus Wertheim und dem Leipziger Platz vorbei bis zum Potsdamer Platz, von dort wieder hinauf auf der Siegesallee durch den Tiergarten und durch das Brandenburger Tor hindurch zurück auf die Lindenpromenade, die einen schließlich zum Königsschloss führte. Der Reiseführer versprach mit diesem Bummel ein erstes Eintauchen in das „Gewoge der Riesenstadt“ und in den „Taumel des Berliner Lebens“.

Je nachdem, zu welcher Uhrzeit man diesen Spaziergang unternahm, konnte man dabei auf unterschiedliche Weise mit der Allgegenwart der Berliner Populärmusik in Berührung kommen und die Bedeutung erleben, die ihr im „Taumel“ und „Gewoge“ des Berliner Lebens zukam. Hielt man sich etwa um die Mittagszeit Unter den Linden auf, so wurde man Zeuge des Aufzugs der Wache, die täglich unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der Tourist*innen vom Brandenburger Tor mit Musikbegleitung zur Haupt- und Königswache neben dem Zeughaus zog und von dort weiter zum Schloss. Nach Ablösung der Wache im Schloss fand dann ein Militärkonzert der Regimentskapelle im Lustgarten statt. Wollte man sich danach in einem der zahlreichen Restaurants und Cafés der Friedrichstadt stärken, so warb etwa das Lokal Hopfenblüte (Unter den Linden 27) damit, dass dort „alltäglich von 1 Uhr mittags ab bis 1 Uhr nachts vier Künstlerkapellen“ konzertierten, „darunter zwei erstklassige Damenkapellen“. Musik wurde auch in anderen Restaurants, Cafés und Bierlokalen so häufig gespielt, dass es dem Reiseführer eigens hervorhebenswert schien, wenn man in einem Lokal einmal „ohne Musik einen Skat spielen kann“. Am Nachmittag luden dann die eleganten Grandhotels Unter den Linden und am Tiergarten zum Fünfuhrtee mit Begleitmusik, abends fanden hier nicht selten private Festveranstaltungen und Bälle statt, in den angeschlossenen Restaurants wurde „Tafelmusik“ gespielt. Das Unterhaltungslokal Clou in der Mauerstraße (zwischen Behrenstraße und Leipziger Straße) bot ebenfalls schon am Nachmittag ein kostenloses „Promenadenkonzert“.

Ging man über den Königsplatz hinaus etwas weiter in den Tiergarten hinein, so kam man am Krollschen Gartenetablissement vorbei, in dem ebenfalls Musik gespielt wurde, zu den Zelten. Hier reihten sich schon seit dem späten 18. Jahrhundert mehrere Garten- und Bierlokale aneinander, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem festen Ausflugsziel der Berliner*innen geworden waren und täglich ebenfalls mit Musik um ihr Publikum warben. Kurkonzerte fanden hier teilweise schon in den frühen Morgenstunden statt, ab dem Nachmittag wurde dann für die musikalische Untermalung des Kaffee- und Biergenusses aufgespielt. In den Abendstunden öffneten rund um die Friedrichstraße schließlich die zahlreichen Unterhaltungsbühnen, auf denen – von der Operette über das Kabarett, die Revue und das Varieté bis zum Tingel-Tangel – Musik in der einen oder anderen Form zum Programm gehörte. Im Anschluss an die Bühnenshow ging es zum Tanz in die Balllokale und Nachtcafés, aus deren offenen Fenstern, wie Edmund Edel 1910 schrieb, noch um drei Uhr nachts „die Gassenhauer und Walzer durch die Sommernacht“ flöteten.6 Am nächsten Morgen um sechs Uhr gab es dann, sofern es ein Sonntag war, wieder das erste Kurkonzert im Tiergarten im Kronprinzen-Zelt 1.

Der Berliner Philosoph und Soziologe Georg Simmel sprach in seinem berühmten Aufsatz über die Großstädte und das Geistesleben von 1903 von der für die Großstadt charakteristischen „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“.7 Das Vergnügungsleben und nicht zuletzt die Omnipräsenz der Populärmusik im öffentlichen Raum trugen maßgeblich zu dieser urbanen Steigerung des Nervenlebens bei. Man meint sie auch in den schnellen Strichen von Kirchners Straßenszenen sehen zu können, und beim Betrachten seines Musikrestaurants oder seiner Straßenszene mit kleinem Fiedler dringt die Kakophonie der Großstadt, dringt das Ineinander von Musikfetzen, Verkehrsgeräuschen und Menschenstimmen an das innere Ohr.

Daniel Morat ist Privatdozent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und arbeitet zur Zeit als Kurator für die Berlin-Ausstellung im Humboldt Forum.

Der Text geht zurück auf Passagen aus: Daniel Morat u.a., Weltstadtvergnügen. Berlin 1880-1930, Göttingen 2016.

  • 1
    Walther Rathenau, Impressionen, Leipzig 1902, S. 140.
  • 2
    Karl Scheffler, Berlin. Ein Stadtschicksal, Berlin 1910, S. 219.
  • 3
    Walther Bloch-Wunschmann (Hg.), Ich weiß Bescheid in Berlin. Vollständiger systematischer Führer durch Groß-Berlin für Fremde und Einheimische, für Vergnügungs- und Studienreisende, Ausgabe 1908/1909, Berlin 1908, S. 100.
  • 4
    Berlin für Kenner. Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt, Berlin 1912, S. 13.
  • 5
    Vgl. für die folgenden Zitate ebd., S. 7, 20-27, 10, 200, 136, 62-69, 81, 141.
  • 6
    Edmund Edel, Neu-Berlin (=Großstadtdokumente, 50), Leipzig 1908, S. 26.
  • 7
    Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1995, S. 116.